In Varanasi sollte man versuchen lästige Verkäufer mit lautstarker Verteidigung abzuwimmeln, denn mit Ignoranz ist es für beide Seiten nur schwer zu ertragen.
Zuerst fällt es einem nicht leicht, weil man das Gefühl hat, das alles tun zu müssen. Aber irgendwann geht es. Man muss nur laut werden.
Denn es kann gar nicht genug Nachfrage für das Angebot dort geben: Rikschafahrer zeigten uns ihre Rikschas, Taxifahrer ihre Taxen, Motorradfahrer wollten mit uns Motorrad fahren, Hoteliers ihre Zimmer verkaufen, Lobbyboys boten uns ihre Kraft im Koffer tragen an, Verkäufer von Obst, Gemüse, Eis, Suppen, Fleisch und Zigaretten feilschten um ihre jeweiligen Waren, Ladenbesitzer um ihre Textilien, Motorbootfahrer zeigten uns ihre Boote, Bettler hielten uns lepröse Hände entgegen, in die wir Kleingeld legen sollten, Köche und Zeitungsverkäufer schrieen auf uns ein, Straßenkinder und Ohrenputzer zupften an unseren, vor lauter Dreck stehenden Hemden; sie boten uns Schmuck und Massagen an, Reisgerichte, bunte Bildchen, Ketten, Postkarten und Feuerzeuge.
Uns war im Prinzip alles recht. Nur eines nicht: Die Massage am Ganges!

Hygiene spielte die größte Rolle beim Ablehnen dieser Leistung. Meine Reisebegleitung, der Photograph Philipp Levinger, und ich hatten uns gerade erst an das Klima und die Speisen gewöhnt. Wir benutzten endlich keine Gläser mehr für unsere Getränke und befreiten das Besteck vor dem Essen ordentlich von seinen Wasserflecken. Wir hörten genau auf das Knacken beim Öffnen einer Wasserflasche, um nicht an eine zu gelangen, die mit Leitungswasser abgefüllt war und wir kniffen den Mund beim Duschen fest zu. Die Luft war voll mit Feinstaub und unsere islamischen Pseudo-Bärte, die wir ständig wuschen, juckten in der Hitze. Wir hatten Angst vor Verunreinigungen, vor Dreck, vor Infektionen, vor Magen-Darm-Krankheiten und Malaria. Vor Entzündungen, Blutungen und Berührungen.
Weder der Ganges noch Varanasi sahen aus, als könnten sie uns von dieser Angst befreien. Wir sahen brennende und schwimmende Leichen und Hunde mit verkohlten Menschenfüßen im Maul. Am Ufer wurden die Toten verbrannt, Hospiz reihte sich an Hospiz. Die Hindus wussten: Die Toten, die hier starben, waren tot und wurden nicht wiedergeboren.
Die Mischung aus Religion und Erhabenheit auf der einen Seite und der Totalität des Sterblichen, Verwesenden, des Dreckigen und Untergehenden auf der anderen Seite, war mehr als schockhaft. Und dazwischen: Überall die Masseure vom Ganges. Sie waren das Rationale in der irrationalsten Stadt Indiens.
Sie waren ganz unsichtbar, sie liefen nur am Ufer entlang und hielten Ausschau nach Leuten wie uns. Nach bleichen Frauen und Männern, die sich vor lauter Unsicherheit bewegten wie Affen, deren limbisches System ausgefallen ist und die deshalb einer Massage bedurften.
Aber das Unvermeidliche kam. Die Masche war so simpel, dass man einfach darauf reinfallen musste:
Ein Mann kam auf mich zu. Ein ganz normaler Inder, weder unheimlich noch unheimlich attraktiv. Plötzlich stand er vor mir und hielt mir die Hand zum Gruß hin.
ZACK! Hatte er mich gepackt und begann zu fingern und zu kneten! Wie eine fleischfressende Pflanze. Wie der kneifende Metallbogen einer Mausefalle. Wie der Oberkiefer des Plastikhais für Kinder, bei dem man versuchen muss dem Fisch die Zähne in´s Maul zu drücken. Bei dem es immer weniger Zähne werden und einer der letzten, bewegt den Hai dazu zuzubeißen.

Ich war Gefangener der Massage am Ganges. Meine Reisebegleitung hielt sofort mit der Kamera drauf und ich machte die ganze Zeit ein komisches Gesicht, weil ich mich ärgerte, auf den Masseur hereingefallen zu sein, denn es war so ähnlich wie folgende Szenarien:
Nehmen wir an, man ist Tourist und will über eine stark befahrene Straße laufen. Man traut sich nicht richtig und jemand erkennt das. Es nimmt dich also derjenige, der den Verkehr gut kennt, mit über die Straße und verlangt anschließend Geld für diesen unaufgeforderten Service. Oder man stelle sich vor, jemand hilft einem beim rückwärts Einparken. Man muss es sowieso machen, aber irgendjemand steht da, winkt ein bisschen rum und will dann dafür Geld haben.
Das sind ärgerliche Serviceleistungen. Zu ihnen gehört die Massage am Ganges. Man bekommt etwas, das man nicht will und muss dafür zahlen.
Der Trick war aber zu gut gewesen, zu einfach, um sich dem Ganzen zu widersetzen. Es gibt auch die Schuhputzer in Istanbul, die mit ihrem Putzzeug an einem vorbeilaufen und ihre Bürste fallen lassen. Dann hebt man die Bürste auf und der Putzer bedankt sich bei dir überschwänglich mit dem Putzen deiner Schuhe. Das du natürlich zahlen musst.
So ähnlich war es hier. Ich weiß nicht, ob das saisonal bedingte Tricks sind, die sich ständig ändern oder was; gut sind sie auf jeden Fall und jeder kopiert sie. Das heißt: Jeder benutzt denselben Trick. Wenn du einmal weißt, wie der Hase läuft, konnten sie dich auch nicht mehr dran kriegen.
Für meine Neurosen war das jedenfalls gar nichts. Der Masseur begann leicht meinen Arm zu massieren, knetete meinen Brustkorb, fasste mir mit seinen Finger ins Gesicht und das wollte ich nicht, weil wir uns gerade hygientechnisch so gut eingelebt hatten. Er versuchte meine Nase zu befreien, klopfte mir stark auf dem Kopf herum und hieb mir seine Knie in den Rücken. Ich war froh als es zu Ende war. Um Himmels Willen, was war ich verspannt danach!
Erstaunlicherweise hatte es meine Reisebegleitung aber geschafft, während ich in den letzten Zügen des Genusses der Gangesmassage angelangt war, selbst eine zu bekommen. Und eben dachte ich noch, dass der Trick nur einmal funktioniert, weil ihn jeder gleich anwendet.
Ich staunte wirklich nicht schlecht. Mein Reisekamerad liess es sich sogar richtig gut gehen. Sein Masseur breitete ein vor lauter Dreck fast schwarzes Tuch auf dem Boden aus, auf das er sich setzen musste. Dort wurde er schön verwöhnt.
Es sah eher nach einer Tantra-Liebestellung aus, was die beiden dort unten auf der dunklen Erde des Ganges veranstalteten. Er nahm ihn sogar fast übers Kreuz, um seinen Rücken einzurenken. Das war gar nicht vergleichbar mit dem Geplänkel, das ich abbekommen hatte.
Nun war ich doch auch ein bisschen Schadenfroh, als ich sein Gesicht sah. Auf diesem machte sich nämlich alles andere als Entzücken breit. Vor allem die Gesichtsmassage gefiel meinem Gefährten überhaupt nicht.
Wir wurden dann entlassen, hatten aber kein Geld mehr, um die beiden zu bezahlen. Deshalb nahmen wir sie mit, durch ganz Varanasi, und suchten einen Geldautomaten. Alles war sehr wirr und unübersichtlich und das Angebot an Dienstleistungen war immer noch hervorragend. Aber, entspannt wie wir waren, konnten wir endlich das tun, was wir tun mussten: Nichts.

Alle Fotos von Philipp Levinger: www.philipplevinger.com