Das nutzlose Licht über dem Pazifik

Richard Brautigan verbrachte als Erwachsener hauptsächlich Zeit in Montana, Kalifornien und der Mischung aus Montana und Kalifornien: Japan. 

Niemand weiß, was er vom Pazifik hielt. Aber er hat ihn immerhin von beiden Seiten gesehen. 

Und Brautigan war reich. 

Und er war Hippie, also Frauenverachter. 

Und er war der wichtigste Autor einer Generation. Er schrieb ein Gedicht darüber, wie ein Mann einem anderen, blinden Mann das Arschloch einer Ratte als Ehering verkauft. 

Der Gedichtband, in dem dieses Gedicht erschien, heißt: Rommel Drives On Deep into Egypt

Brautigan entlehnte den Titel des Bandes einer Schlagzeile aus dem San Francisco Chronicle vom 26. Juni 1942. 

Der Chronicle ist heute die Tageszeitung mit den besten Sudokus in den USA. Sie werden jeden Tag schwerer, montags beginnen sie leicht, samstags können sie nur noch von Profis gelöst werden. 

Brautigan besuchte während der Einnahme der libyschen Stadt Tobruk durch Rommel die Central Avenue Grade School in Tacoma, Washington. 

1942 wurde eine Tonsillektomie an ihm durchgeführt. Er bekam in jenem Jahr Mumps, Keuchhusten und Windpocken. 1942 war ein schlimmes Jahr für ihn. 

Brautigan vermerkte in einem Notizbuch von 1976: „Ich bin im Krieg aufgewachsen.“ 

Das Gedicht mit dem Titel Rommel Drives On Deep into Egypt von Richard Brautigan:

Rommel is dead.

His army has joined the quicksand legions

of history where the battle is always

a metal echo saluting a rusty shadow.

His tanks are gone.

How’s your ass?

Alle 492 veröffentlichten Gedichte von Brautigan wurden von Fans auf der Seite brautigan.net zur Verfügung gestellt. Die Fans sagen: Er hätte das so gewollt. 

Am 15. Dezember 1971 kaufte Brautigan ein dreistöckiges Holzhaus im Arts and Crafts-Stil in Bolinas, nördlich von San Francisco. Er zahlte an die Besitzer Alfred B. und Dorothy E. Parsons 32.500$. 

Fünfunddreißig Jahre nach Brautigans Tod fahre ich mit meinem Freund Marius nach Bolinas, um dieses Haus anzuschauen. Der Wert des Hauses ist auf 2 Millionen Dollar gestiegen. 

Auf dem Weg nach Bolinas, auf den Grünstreifen zwischen den Highwayauffahrten, da sind die Zeltstädte der Obdachlosen. 

Und die gesamte vordere Häuserreihe an der San Francisco Marina steht leer. 

Da, wo Brautigan wohnte, kurz bevor er nach Bolinas zog, in der 2456 Geary Street, kehrt jetzt die Poop-Troop menschliche Scheiße von der Straße. 

Am 14. September 1970 erwarb Brautigan einen Angelschein, mit Lizenz für ganz Kalifornien. Er sah jeden Tag den Pazifik. 

In Sausalito, noch fast eine Stunde von Bolinas entfernt, spricht eine schöne Frau mit ihrem Spiegelbild vor einem Geschäft für Anglerbedarf. Das ist das Fentanyl. 

Dem kranken Hund meiner Tante wurde eine Dose mit einhundert Pillen des Medikaments verschrieben, das diese Frau zu sich genommen hat. 

Wir sind schon in Bolinas, als sie auf die Straße scheißt. 

In Bolinas nahm sich Brautigan mit einer .44 Magnum das Leben. Das war 1984. 

Ein schlimmes Jahr für ihn. 

Er hatte sich die Waffe von seinem Freund Jim Sakata geliehen, dem Besitzer der Cho-Cho Tempura Bar

Heute muss man sich solche Waffen nicht mehr leihen. 

Die letzten drei Tage im Leben Richard Brautigans verliefen in etwa so:

14. September 1984

Brautigan lässt sich nach San Francisco fahren und nimmt Drinks im Enrico‘s ein. Dort trifft er eine Frau, mit der er anschließend bei Vanessi‘s zu Abend isst. Beim Betreten des Restaurants sieht Brautigan die Spiegelung seiner Ex-Frau Akiko Yoshimura in den Scheiben der Eingangstür. Sie sind zu dem Zeitpunkt seit vier Jahren geschieden. 

Ohne Begleitung geht Brautigan zurück ins Enrico‘s, wo er seine Ex-Freundin Marcia Clay trifft, mit der er ebenfalls seit vier Jahren nicht mehr zusammen ist. Er spricht mit ihr über seinen neuen Roman The Total Absence of Twilight

Danach betrinkt er sich in verschiedenen Kneipen wie dem Gino & Carli‘s und wird dann von einem Freund zurück nach Bolinas gefahren. 

Am nächsten Tag telefoniert er mit seiner Ex-Freundin Marcia und will ihr etwas vorlesen, muss aber auflegen, um den Text zu suchen. Er ruft sie nie zurück. 

Am letzten Tag in seinem Leben ruft er seinen alten Freund Don Carpenter an und beendet das Gespräch mit den Worten „I love you. Goodbye.“ Er checkt den Timer, der das Licht in seinem Haus an – und ausschaltet, dann dreht er das Radio auf. 

Er erschießt sich, mit Blick auf den Pazifik, im zweiten Stock seines Hauses. 

Bolinas ist ein Ort für Aussteiger: Also Hippies, also Frauenverachter. 

Die Tankstelle bietet die Gallone Sprit hier für 6$ an. Das ist fast eine Verdoppelung des Preises in der Stadt. 

Ein Mann im Pickup beschwert sich darüber. Er lächelt dabei.

Wir sitzen im Auto in der Nähe des Hauses, das Paul Kantner, der Sänger und Gitarrist der Band Jefferson Airplane, hier ein Jahr vor Brautigan kaufte. 

Wir essen Käsetoasts. Brautigan ist tot, Kantner ist tot. 

In Bolinas will niemand gestört werden. Ein Grund für uns, in die vielen Grundstücke einzudringen, bis wir, an GMC’s mit Surfbrettern vorbeischleichend, Brautigans Haus finden. 

Eine Frau kommt als wir klopfen. 

Sie hat graues Haar, sie heißt Zeno, sie ist ein Hippie, vielleicht verachtet sie Frauen. 

Im Wohnzimmer sitzt noch eine Frau. Sie liest Zeitung und wir dürfen eintreten. 

Im ehemaligen Haus von Brautigan, im Haus von Zeno, gibt es keine Antiquitäten. 

„Mein Mann ist Wissenschaftler“, sagt Zeno. 

Marius packt mich von hinten am Kragen meines Hemdes und flüstert mir ins Ohr: „Wissenschaft macht dumm. Wissenschaft macht klein. Wissenschaft macht häßlich. Wissenschaft verunstaltet.“

Wir stehen in der Küche. Wir wissen nicht, ob wir willkommen sind. Über uns hat sich Brautigan erschossen. 

Zeno erzählt, dass sie Brautigan, der keinen Führerschein besaß, manchmal nach San Francisco fahren musste. Sie kannte ihn gut, sie war sehr jung damals. 

Sie erzählt, dass sie mit Brautigan Basketball spielte, dass Brautigan aber so schizophren wurde, dass er glaubte, sie habe nachts die Höhe des Basketballkorbs verstellt. 

Sie erzählt, wie Brautigan bei einem Abendessen eine Wette gewann. Der Einsatz war das benutze Geschirr. Er wickelte es in die Tischdecke ein und ging nach Hause. 

Er trank hauptsächlich Wodka. In der Küche, im Wohnzimmer – in dem eine große USA-Flagge den Blick in den Garten versperrte – im Garten. 

Überall. 

Als Brautigan sagte, dass er nach Montana gehen würde, aber sich stattdessen mit Sakatas Pistole erschoss, glaubten ihm alle. Dann wurden sie misstrauisch und riefen ihn in Bolinas an. 

Sie riefen ihn so oft an, dass dem Anrufbeantworter langsam der Saft ausging. Seine elektronische Stimme wirkte immer verzerrter, wie die eines Geistes, der er schon längst war.

Er lag neun Tage im Wohnzimmer, bis man ihn fand. 

Zeno lässt uns so lange an Brautigans altem Tisch auf dem Balkon sitzen, wie wir wollen. Neben uns steht Brautigans Sofa, es ist mit einer Plastikfolie abgedeckt. 

Auf dem Balkon Brautigans behauptet Marius, dass jeder Schöngeist, der etwas auf sich hält, seine eigene „Antiquität“ besitzen müsse. Etwas, von dem er sich nie trennt und dem er all seinen Enthusiasmus entgegen bringt: alten europäischen Schrott zum Beispiel. 

Mir wird von diesem Gedanken schwindelig – wo soll ich so schnell an eine solche Antiquität kommen? Ich stehe auf und will etwas aus dem Haus von Brautigan klauen, als mir einfällt, dass es dort keine Antiquitäten gibt. 

„War Brautigan ein Schöngeist?“, frage ich Marius. 

Marius winkt ab. 

Wir schauen auf den Pazifik. 

Am Abend sitzen wir, ein Stück die Küste runter, mit meinem Onkel im Freien. Der große Fernseher läuft und wir essen Wachteln. 

Mein Onkel trainiert ein Highschool-Basketballteam. Er erzählt, dass am Morgen vor einem Einkaufsladen in Nord-Berkeley sein siebzehnjähriger Spieler J-Mac erschossen wurde. 

Wir hören auf Wachteln zu essen. Warum heute?

Der Nachbar in der 31st Street hört das Album Bad Vibes Forever des Rappers XXXTENTACION. Warum heute?

XXXTENTACION wurde bei einem Raubüberfall in Florida erschossen. 

Er wurde zwanzig Jahre alt und liegt auf dem Friedhof The Gardens of Boca Raton begraben. 

Wir wollen mit meinem Onkel dann über griechische Tragödien sprechen, aber wir trinken Tequila. 

Erst ein paar Tage später muss mein Onkel weinen. Am meisten darüber, dass ihn das alles nicht mehr überrascht.  

„Für die Generation nach uns ist Amerika kulturell gesehen nicht mehr sehr interessant, sie wollen nach Asien“, sage ich. 

„Aber für uns wird es immer Amerika bleiben. Obwohl ich gerne fertig wäre mit Amerika. Aber ich werde niemals fertig sein mit Amerika“, sagt Marius. 

Wir sitzen im Licht der untergehenden Sonne. Ein Kolibri fliegt neben einem Helikopter durchs Orange. 

Brautigan hat in seinen fast fünfhundert Gedichten niemals das Licht über dem Pazifik erwähnt. 

Dieser Text erschien in der sechzehnten Ausgabe des DRECK-MAGAZINS